Begegnung und Dialog

Vielleicht beginnen wir mit dem Eingeständnis, dass wir selbst herzlich wenig darüber wissen, wo und wie wir ansetzen können. Die Komplexität des Zeitenwandels scheint unser Fassungsvermögen zu übersteigen. Dennoch spüren wir, dass wir es sind, jede und jeder einzelne von uns, die einen Unterschied machen können; dass die Zukunft in unserer Hand liegt und wir in der Lage sind, sie zu gestalten. Wir dürfen davon ausgehen, dass die Jugendlichen gewillt und in der Lage sind, angesichts der aktuellen Krisensymptome aus ihrem eigenen Potential heraus neue Wege zu gehen. Doch nicht allein, orientierungslos, verloren im Netz der verwirrenden Informationsflut. Denn es geht nicht vorrangig um abzuspeicherndes Wissen. Der schulische Unterricht hat inmitten der Medienflut die Chance zum Dialog, zur Begegnung von Mensch zu Mensch. Die Qualität der Begegnung birgt die Möglichkeit, Erlebnisse im Unterricht zu haben, die anderswo in der Art kaum zu haben sind.

„Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“, fragt der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in persönlicher Betroffenheit über den von ihm wahrgenommenen Verlust von Qualität an den allgemeinbildenden Schulen, den er an weitgehend sinnfreien Interventionen der  Schulbürokratie („Reformwahn“) sowie „phrasenhaften“ Einlassungen aus der Erziehungswissenschaft erblickt. Er wünscht sich neben mehr Schulautonomie einen Unterricht, in dem das freie, vertiefende Denken auf der Grundlage eines echten Textverständnisses, ausgehend von wirklichen Fragen, im Mittelpunkt des Unterrichts steht, und nicht ein gehetztes Abarbeiten willkürlicher Lehrplanvorgaben. Das hieße, dass es darauf ankommt, das gemeinsame Nachdenken über die Zukunft so anzulegen, dass aus der Wahrnehmung, der Begegnung mit den aktuellen Herausforderungen der Raum gestaltet werden kann für die inneren Bilder, Ideen, Intuitionen, aus denen heraus sich Zuversicht, Kraft, Gestaltungswille ergeben.

In unserem Zusammenhang kann der Lernprozess nur ein gegenseitiger sein, auf Augenhöhe sich entwickeln. Jugendliche sprechen in unbekümmerter Art von dem, was in ihnen lebt, inhaltlich, aber auch in einer Art und Weise, zu der die Lehrenden als ältere Gesprächspartner nicht in der Lage wären. Zum Beispiel Themen wie Massentierhaltung, Hausbau mit Materialien aus der Kreislaufwirtschaft, oder Modedesign aus Up-Cycling-Stoffen. In solchen Unterrichtsstunden ist spürbar, welches Erneuerungspotential, welche Qualitäten durch wechselseitiges Zuhören und Wahrnehmen entstehen können. Wenn eine Schülerin sich mit dieser Frage beschäftigt, entstehen Gestaltungsideen, die in keiner Unterrichtsvorbereitung vorausgedacht oder -geplant werden können. Es bedarf jedoch sachlicher Hinweise für solche Lernwege, benötigt sind Brückenschläge in die Realität, der sog. ‚Input‘.

Was könnte die Methode einer Möglichkeitswissenschaft sein? „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe nachdenklicher, engagierter Bürger die Welt verändern kann: Es ist in der Tat das Einzige, was die Welt jemals verändert hat,“ formulierte die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Margaret Mead. Wir suchen innere und äußere Anklänge der Zukunft, die mit Freude und Leidenschaft zu erkunden sind, wir versuchen, Lichter der Zukunft zu kultivieren. Dazu kann eine Anleihe bei der „Presencing“-Methode Otto Scharmers hilfreich sein. Dort heißt es: „Der Erfolg einer Intervention ist abhängig von der inneren Verfassung des Handelnden.“ Und: „In dem Ausmaß, in dem es uns gelingt, unsere innere Aufmerksamkeit und ihre Quelle zu sehen, können wir das äußere System verändern.“ Es handelt sich dabei um eine Öffnung des Denkens, des Fühlens und des Willens, wodurch sich die „entfalten wollende Zukunft“ erspüren lässt. (zitiert nach: www.theory-u.eu)

Es geht also um die innere Haltung: Die Gesprächspartnerin fühlt sich von mir angesprochen, wenn das Gefühl entsteht, der Lehrer spricht sowohl von sich als auch für mich. Verzichten wir also auf Lehrer-Sprechblasen, die einfache Ich- oder Du-Botschaften enthalten, bemühen wir uns, nicht dem anderen die eigene Befindlichkeit aufzudrängen, sondern in der Sprache einen Raum der An-Sprache zu öffnen, in dem Ich und Du sich begegnen. So können wir konkreter Phantasietätigkeit einen Raum gewähren, wie das ‚gute Leben‘ mitfühlend und mitlebend mit den Naturkräften und den Mitmenschen zu gestalten wäre.

Mir passierte es, dass eines Tages einige Schülerinnen den Wunsch äußerten, die Sitzordnung zu ändern: „Können wir nicht mal im Kreis sitzen?“ Wir probierten es aus, und die Erfahrung zeigte, dass auch die räumliche Anordnung einen Einfluss ausüben kann auf das, was dann gesprochen wird. Die Augenhöhe wurde erlebbar, die Offenheit entstand durch das äußere Aufheben eines Settings der Belehrung, die Verantwortung jedes Einzelnen zum Gelingen des Gesprächs wurde deutlicher. Dabei handelt es sich sicherlich nicht um eine Garantie für eine produktive Atmosphäre, aber eine gute Voraussetzung für das Wachsen-Lassen innerer Bilder bzw. Visionen, für ein ,nachhaltiges‘ inneres Erleben.

Uwe Schneidewind fasst seine konkrete Vision des Wandels so zusammen: „Diese Grundüberzeugungen haben meiner Ansicht nach letzten Endes einen transzendenten Fluchtpunkt. Wenn man nur nüchtern auf die Welt schaut, dann lässt sich mit rein rationalen Argumenten nicht begründen, ob wir nun eine Welt haben, in der ein jeder des anderen Wolf ist und wir es nur gelegentlich schaffen, den Zustand des Krieges jeder gegen jeden zu befrieden – ob wir also nichts anderes haben als ein auf materialistische Werte reduziertes Kampffeld, bei dem es um nichts geht. Oder ob wir Wesen sind, in denen ein besonderes humanistisches Potential schlummert, ob es das größte Geschenk der menschlichen Existenz ist, an dieser humanistischen Idee teilzuhaben und sich in sie einzubringen können. Die tiefe innere Gewissheit zu spüren, dass in uns Menschen ein Mehr angelegt ist, hat ein gewaltiges Potential. […] Wo bekomme ich Richtungssicherheit her? Das kann sich nicht mehr nur rein rational transportieren, wir müssen umfänglich aufnehmen, was in der Gesellschaft und in uns selbst angelegt ist. Und wenn es um eine moralische Revolution geht, dann muss ich erspüren, wo sich das heute manifestieren will und was das für mein Handeln in einer Organisation oder in der Politik bedeuten muss.“ Und weiter: „Das Neue ist denkbar, in den Bildungseinrichtungen muss der Raum dafür gegeben sein, diese Denkansätze schrittweise in institutionelle, organisatorische, politische und technologische Wirklichkeit zu überführen.“ (Zeitschrift ,Info3‘, Januar 2020)

Literatur:
Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?, Berlin, 2019

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