Fragehaltung statt Wissenstransfer

Der Wissenschaftspublizist Harald Lesch fordert eine „Waldorfisierung“ der Schulen (siehe das Interview mit ihm im Materialteil). Er präzisiert das in dem Buch „Wie Bildung gelingt“ mit der Berücksichtigung altersspezifischer Didaktik, man solle „abstraktes Denken nicht zu früh“ vermitteln; er betont die Bedeutung persönlichkeitsbildender Erfahrungen wie Theater, Kunst und Handwerk, fordert einen Freiraum für soziales Geschehen sowie einen vorsichtigen, bewussten Umgang mit den Bildschirmmedien. Er plädiert für einen Unterricht, der sich nicht an den engen Fächergrenzen orientiert, sondern an den großen Fragen des Lebens ausrichtet: „Klimawandel wäre ein so wunderbares Thema.“

Wir wollen also von Fragen ausgehen. Wir stellen in Frage, lassen uns berühren, anrühren. Wir haben keine fertigen Antworten, Konzepte für die Weltprobleme, die wir besprechen. Wir kommen miteinander ins Gespräch. Wir gehen davon aus, dass wir im gemeinsamen dialogischen Bemühen Wege finden können, die sich zu gehen lohnen. Fragen, Wünsche und Themen bringen die Schülerinnen von selbst vor, und nur eine Lehrperson, die dafür entweder kein Gespür hat oder dem keine Bedeutung beimisst, wird diese nicht berücksichtigen. Die Fragen sind gesellschaftlich schon gestellt, es sind unsere gemeinsamen Fragen, die Schülerinnen stellen sie latent oder artikuliert.

Eher Bewusstheit als Wissen

Zunächst benötigen wir als Grundlage die Darstellung der planetaren, ökonomischen, sozialen und menschheitlichen Verhältnisse. Und da sehen wir zwei Richtungen. Zunächst das Alte, Bestehende. Wir werden nicht umhinkommen, mit einiger Schonungslosigkeit die Weltverhältnisse in den Raum zu stellen, die uns und den Planeten in die aktuelle Krise gebracht haben. Das Wissen um die Gefahren hat zweifellos zuletzt stark zugenommen, dieses Wissen weiterhin der jungen Generation zu vermitteln, hat jedoch – je nach den besonderen Umständen – manch einmal gar nicht so viel Sinn. Ist es nicht vielmehr so, dass die Jugendlichen stärker erleben, dass es die Erwachsenen sind, die ihr Egomanagement nicht in den Griff bekommen?

Aber von diesen bekannten Realitäten ausgehen und zeigen, wie es anders geht, darum sollte es gehen. Das ist eine andere Richtung, der Blick auf das Neue, Werdende: „Und genau darum geht es beim utopischen Denken und Handeln: der Wirklichkeitsbehauptung des Mainstreams eine oder mehrere überzeugende Behauptungen entgegenzustellen. Dann wird plötzlich die konventionelle Wirklichkeit porös und andere Möglichkeiten bekommen Kontur.“ (Welzer S. 293) „In modernen Wissensgesellschaften beeinflusst Wissen den Verlauf von Transformationsprozessen. Ob Herausforderungen rechtzeitig erkannt werden, ob ein gemeinsames Verständnis für wünschenswerte Zukünfte entsteht, ob Lösungen für ein Umsteuern erarbeitet werden, wird letztlich auch durch akademische Wissensproduktion mitbestimmt. […] Wie muss eine Wissenschaft aussehen, die die Transformationsprozesse zu einer nachhaltigen Entwicklung begleitet?“, fragt Uwe Schneidewind und diese Frage lässt sich direkt auf die Aufgaben der Schule übertragen. Er prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Möglichkeitswissenschaft“.

Literatur:
Harald Lesch: Wie Bildung gelingt, Darmstadt, 2020
Harald Welzer: Alles könnte anders sein, Frankfurt am Main, 2019

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