Gemeinwohlökonomie: „Wir brauchen ökologische Menschenrechte“

Interview mit Christian Felber, geführt von Bernward Geier

Sie sind ein Kritiker unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems. Was ist das Kernproblem?

Das Wirtschaftssystem fokussiert auf Gewinn und Profit und die Mehrung von Privateigentum, das sind falsche Ziele. Werden diese Mittel zum Zweck, dann gefährden sie alle Grundwerte – von der Menschenwürde über den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie bis zum Schutz des Weltklimas und der Artenvielfalt.

Sie haben eine neue Form des Wirtschaftens mitentwickelt. Wie würden Sie die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) in drei Sätzen beschreiben?

Sie ist eine Wirtschaftsweise, in der alle wirtschaftlichen Aktivitäten auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Daran wird sie auch gemessen. Dies bedeutet in der Praxis, dass die, die mehr zum Gemeinwohl beitragen, zum Beispiel steuerlich privilegiert werden. Solche, die das Gemeinwohl gefährden, werden über höhere Steuern, Zinsen und Zölle zur Einhaltung der gesellschaftlichen Ziele angereizt.

Wie ist die GWÖ entstanden?

Der Auslöser war der Widerspruch zwischen unseren demokratischen Grundwerten und den sogenannten Werten, welche der globalisierten Ökonomie zugrunde liegen. Ich war damals noch bei Attac in Österreich und hatte schon das Buch „Neue Werte für die Wirtschaft“ geschrieben, das aber für ein breites Publikum zu komplex war. Dennoch haben ein Dutzend Unternehmer vorgeschlagen, das Konzept zu vereinfachen und praktikabel zu machen und sich als Pioniere einer GWÖ-Bewegung zur Verfügung zu stellen.

Nach welchen Kriterien werden Unternehmen bewertet?

Das sind zunächst demokratische Grund- und Verfassungswerte: von der Menschenwürde über Solidarität und Gerechtigkeit bis zur ökologischen Nachhaltigkeit und Demokratie. Das wird in der GWÖ-Bilanz in bewertbare Themen und Teilaspekte aufgeschlüsselt.

Unsere Wirtschaft ist auf Profit ausgerichtet, unsere Gesellschaft auf Konsum. Hat Ihr Konzept da überhaupt eine Chance?

Die Pioniere sind so motiviert und unterstützen sich so stark, dass sie sich als Nische etablieren konnten. Jetzt muss die Politik handeln und die Spielregeln für das Wirtschaften ändern. Sie muss einen neuen Rechtsrahmen schaffen, der die neue, auf Gemeinwohl ausgerichtete Wirtschaftsweise unterstützt.

Welche Bedeutung hat die Bio-Bewegung in der Gemeinwohl-Ökonomie?

Sie ist eine tragende Säule. Gemeinwohl ohne Bio ist nicht vorstellbar. Am Anfang kamen viele Pionierunternehmen aus dem Ökologiebereich und aus dem fairen Handel. In der Bewertung der Unternehmen berücksichtigen wir biologische Lebensmittel, erneuerbare Energie und regionale Zulieferer.

Kann die Gemeinwohl-Ökonomie zur Bekämpfung der Klimakrise beitragen?

Die Gemeinwohlbilanz kann einen ganz wichtigen Beitrag dazu leisten. Der wichtigste ist, das Brutto-Inlandsprodukt abzulösen – und zwar durch ein Gemeinwohlprodukt, das Klimastabilität beinhaltet. Dazu braucht es CO2-Steuern in Kombination mit CO2-Zöllen, um Wettbewerbsnachteile für ökologisch produzierende Firmen zu verhindern. Wir brauchen ökologische Menschenrechte, die den Umweltverbrauch der Menschen auf das jährlich erneuerbare Angebot des Planeten begrenzen.

Sie werden Mitte Juni (2021) Hauptredner auf dem Kongress „Soziale Zukunft“ in Bochum sein. Wie radikal muss sich Wirtschaft verändern?

Bis an die Fundamente. Die Ökonomie muss revolutioniert werden. Die wirtschaftlichen Spielregeln müssen geändert werden – von Gewinnstreben, Konkurrenz und Wachstum auf Kooperation, Gemeinwohlorientierung und Gleichgewicht. Und das Menschenbild des sogenannten Homo oeconomicus muss durch einen emotional gesunden, beziehungsfähigen  und ökologisch empathischen Menschen ersetzt werden. Der Homo oeconomicus, wie er heute in den Wirtschaftswissenschaften gelehrt wird, ist ein Psycho- und Soziopath.

Welche Impulse erhoffen Sie sich?

Als wichtigen Impuls sehe ich die Weiterentwicklung der direkten Demokratie, um die neue Form des Wirtschaftens politisch umsetzen zu können.

Aus: Schrot und Korn, Mai 2020, mit einem Dankeschön für die Genehmigung zur Veröffentlichung an B. Geier