Lehrer:innen-Handbuch
Inhalt:
Vorbemerkung
Didaktischer Hintergrund
Der Blick in die Welt
Schüler:innen an der Spitze des Wandels
Erzählungen
Entwicklung
Perspektiven des Wandels
Unterricht
Eher Bewusstheit als Wissen
Fragehaltung
Begegnung und Dialog
Zur Auswahl der Materialien
Nachbemerkung zum methodischen Ansatz der Waldorfpädagogik
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Vorbemerkung
Wir sind alle auf dem Lernweg, denn: „So wie es ist, kann es nicht bleiben.“ Diese Erkenntnis wird in Bezug auf die Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte geäußert, sie prägt den Globalisierungs-Kolonialismus-Rassismus-Diskurs, die Auseinandersetzung um Geschlechtergerechtigkeit und Diversität und Weiteres. Sie erstreckt sich auch auf alle Erkenntnis-, Bildungs- und Lernvorgänge in Wissenschaft und Gesellschaft, und mündet nicht zuletzt in die Bemühungen um eine den Herausforderungen der Transformation gewachsene Schule (Stichworte fächerübergreifender Unterricht, kooperatives Lernen, Individualisierung, außerschulische Lernorte, Globales Lernen, Lernen in der Einen Welt usw.).
Der entwicklungspolitische Verein Carpus e.V. hat nun eine Handreichung zum schulischen Lernen unter dem Titel: „Globales Lernen – Inspirationen für den transformativen Unterricht“ herausgegeben. Die Erfahrungen aus 15jähriger Bildungsarbeit zu Themen wie Klimaschutz, Entwicklungsziele der Vereinten Nationen und zu großen deutschen Hilfswerken sind dort zusammengefasst und weiterentwickelt worden. Sie beeinflussen auch die Art, wie Unterricht aufgefasst und anders gestaltet werden kann.
Lernen mit Kopf und Herz
„Es geht darum, Lernen als vielschichtigen, ganzheitlichen Prozess zu verstehen, der erst in der Kombination und unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Faktoren gelingen kann. Die Wahl der Lernaktivitäten und die Stimulation der Intelligenz sind für didaktische Konzepte vertraute Stellschrauben. Emotionales Lernen ist ein weiterer zentraler Bestandteil von Lernprozessen. Werden Lerninhalte emotional als belanglos eingestuft, bleibt davon meist wenig haften.“
„Auf der Ebene des Seins reflektieren wir uns selbst und schärfen unser inneres Bewusstsein. Lernprozesse finden nicht im isolierten Raum statt, vielmehr funktionieren sie über Zugehörigkeiten, die aktiviert und bewusst gestaltet werden können.“ (Globales Lernen S.43)
Ungewissheit aushalten
„Lehrkräfte lernen in ihrer Ausbildung, ihren Unterricht systematisch und detailliert zu planen. Jeder Arbeitsschritt wird im Planungsraster vorausgedacht und dokumentiert. Lehrkräfte werden auch von den Schüler:innen mit der Erwartung konfrontiert, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. In der Schule bleibt wenig Platz für offene Fragen, für Momente der Ungewissheit und Unsicherheit. Globales Lernen spricht globale Probleme, Krisen und damit auch die großen Zukunftsfragen an: Wie reagieren wir auf den Klimawandel zum aktuellen Zeitpunkt? Wie sieht ein gutes Leben für alle aus? Welche Veränderungen brauchen wir für eine global gerechte Welt? Welche Rolle spielen wir als einzelne und mit anderen? Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen, richtigen Antworten – Globales Lernen ist oft die gemeinsame Suche nach weiterführenden, bereichernden, den Weg auslotenden Fragen. Globales Lernen konfrontiert uns immer wieder mit unserer individuellen und kollektiven Ungewissheit.“ (S. 46)
Ein Blick aufs Ganze
„Globales Lernen setzt ganzheitlich an. Es erweitert Lernprozesse bewusst über die rein kognitive Ebene hinaus. Ein solches mehrdimensionales Verständnis von Lernen stellt keine Erweiterung im Sinne einer Neuentdeckung dar. Vielmehr lädt das Globale Lernen als transformatives Lernen hier zum Verlernen einer modernen Engführung ein: Die europäische Moderne hat uns auf kognitives Lernen hin verpflichtet, sie betont Quantität, Effizienz, Messbarkeit und unmittelbare ökonomische Verwertbarkeit von Wissen.“
„Das emotionale Lernen, das Lernen durch, mit und aus Gefühlen, eröffnet uns Türen zu uns selbst und zur Welt. Es bringt die Herausforderung mit sich, dass unsere Gewissheiten infrage gestellt werden, dass uns die Fakten und Fragen, die uns Globales Lernen nahebringen will, Unsicherheit, Zweifel, Wut, Erstaunen, Scham oder auch Hoffnung bescheren. Ein Verständnis von Globalem Lernen als ganzheitlichem Lernen, das Gefühle und Körper miteinbezieht, stärkt das Ich und verbindet uns gleichzeitig mit den großen gesellschaftlichen und politischen Fragen. Dies ist auch eine Frage der Methodik, aber nicht nur: Wir sind als Pädagog:innen auch hier als Menschen gefragt, die Lernprozesse als bewusste Beziehung gestalten können.“ (S.50)
„Was sind die Symptome der Klimakrise, was ihre Ursachen? Welche Fragen brauchen wir, um zum Kern aktueller Probleme von Ungerechtigkeiten und zerstörerischen Lebensweisen vorzudringen?“ (S.53)
Verbundenheiten wahrnehmen
„Unabhängigkeit, Freiheit, Individualität – diese Schlagworte werden oft mit westlichen Gesellschaften in Verbindung gebracht. Abhängigkeit erscheint als unbedingt zu vermeiden. Gleichzeitig zeigen globale Krisen wie die Klimakrise oder die Covid-19-Pandemie, dass wir Menschen weltweit miteinander verbunden und voneinander abhängig sind und unsere Existenz von äußeren Faktoren bestimmt wird. Was bedeutet Freiheit für Sie? Unter welchen Voraussetzungen sind Sie frei/ können Sie sich frei fühlen und entfalten? Kann Abhängigkeit auch positiv sein? Welche Abhängigkeiten machen unsere Existenz und ein gutes Leben möglich?“ (S.60)
Den Unterricht auf diese Weise zu gestalten bedeutet eine gründliche Erneuerung der Lernkultur, indem tradierte Vorstellungen weiterentwickelt und Lern-ziele, -inhalte und -methoden neu durchdacht werden. Der inhaltliche Focus liegt bei dieser Veröffentlichung auf den Folgen des Kolonialismus und dem Perspektivwechsel aus Sicht des globalen Südens. Das Land Brandenburg nimmt im Jahr 2022 die Arbeit von Carpus e.V. in seine Lehrkräftefortbildung auf.
Didaktischer Hintergrund
Der Blick in die Welt
Die Komplexität der globalen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Verhältnisse im Unterricht abzubilden, scheint weder möglich noch letztlich erforderlich zu sein. Ein vorab festgelegtes Curriculum kann an den aktuellen Fragen vorbeigehen. Es hat sich infolgedessen bewährt, in der Auswahl der Themen und Inhalte eine größtmögliche Offenheit beizubehalten, dabei gleichwohl einem eigenen roten Faden zu folgen.
Es gibt eine Ahnung, häufig die Überzeugung, dass die Geschichte vom Fortschritt in den letzten 200 Jahren, von Steigerung und Verbesserung, von der Dienstbarmachung der materiellen Welt jetzt an ihr natürliches Ende gerät. Der Wachstumslogik des ,Immer-mehr-immer-größer‘ von allem Dinglichen setzt die Endlichkeit der Natur klare Grenzen. Naturprozesse werden vom Verhalten der Menschheit in den Hintergrund gedrängt und in ihrer Funktion so weit gestört bzw. zerstört, dass nunmehr wesentliche grundlegende Kreisläufe gefährdet sind. Das schlägt auf uns Menschen selbst zurück.
Wenn wir dies in den Blick nehmen, stellen sich sogleich verschiedene Fragen. Können wir die Dimension des Geschehens in seiner Tragweite erfassen? Warum ist das so? Wie konnte es soweit kommen? Welcher Sinn der Entwicklung lässt sich daraus lesen? Welche Kräfte drängen in die eine, welche in die andere Richtung? Wie können wir umsteuern?
Wir merken, dass sich erstens eine Herausforderung an unser Erkenntnisvermögen stellt, zweitens an unser Gefühlsleben: Hoffnungslosigkeit, Depression und Pessimismus kämpfen mit Zuversicht und kreativen Zukunftsentwürfen – und drittens richtet sie sich an Tatbereitschaft und Übernahme persönlicher und kollektiver Verantwortung.
Insgesamt ergibt sich das Bild eines umfassenden Wandels, einer tiefgreifenden Transformation, in der wir uns befinden, die bis in die Lebensrealität und Veränderungsfähigkeit eines jeden von uns hineinragt.
Schülerinnen an der Spitze des Wandels
In den jungen Menschen sehen wir Agenten des Wandels, die Träger von Zukunftsimpulsen, deren Bestimmung es ist, die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Die Aufforderung zum Selbstdenken und Weiterentwickeln ist wichtiger als die implizite Nötigung zur Reproduktion bestehender kultureller Denkweisen und Institutionen. Die jungen Leute von Fridays for Future haben im Jahr 2019 ihren Eltern, Lehrerinnen und der weiteren Öffentlichkeit vor Augen geführt, wie sehr der Weg vom – zurückgedrängten – Wissen zum Handeln bei den meisten Menschen blockiert ist. Die alten Erzählungen von ,Wachstum‘, ,Wohlstand‘, den festen Vorstellungen von den Segnungen der Marktgesetzlichkeit, die Denkmuster in Kategorien von Bruttoinlandsprodukt, Arbeitsplätzen, Exportchancen usw. können vermutlich von jüngeren Menschen anders erlebt und leichter in Frage gestellt werden. Bislang fest gefügte Überzeugungen geraten auch in den großen etablierten Medien ins Wanken: „Der Markt hat sich in vielen Bereichen zu einer Kraft entwickelt, die dem Menschen entgegensteht, anstatt ihm zu dienen und zu helfen“ (Georg Diez in ZEIT-Online vom 10.4.2020: „Das Neue ist längst da“).
Doch das Neue ist eben leider vorerst nur ansatzweise in den Köpfen weitblickender Autorinnen und Autoren da, die sich allerdings zunehmend nicht nur in den ,alternativen‘, sondern inzwischen auch in den Leitmedien stärker zu Wort melden. Und das ist wohl zunächst auch nicht verwunderlich, handelt es sich doch um einen keineswegs leichten und oberflächlichen Wandel. Es geht vielmehr um einen epochalen Umschwung, weg vom ,Gegen-die-Natur-Wirtschaften‘ mit CO2-Ausstoß, Vermüllung, Vergiftung und ,Effektivierung‘ durch Raubbau und Monokulturen hin zu einem ,Mit-der-Natur-Wirtschaften‘, vielfach als ,Nachhaltigkeit‘ umrissen.
Entwicklungen wahrnehmbar machen
Wenn wir junge Menschen als Vorreiter einer überfälligen Entwicklung sehen, dann hat das Folgen für Form und Inhalt des Schulunterrichts. Was bringt uns in unserer Entwicklung wirklich voran? Wir müssen vom Bestehenden ausgehen. Doch wir sollten es so in den Blick bekommen, dass es in seiner Fragwürdigkeit und Vorläufigkeit erscheint, dass die dahinterstehenden Denkmuster offenkundig werden, und dass wir die üblichen, tradierten Begriffe umdenken können. Mit Hasso Plattner oder Uwe Schneidewind kann das „Design-Thinking“ bzw. „Transformationsdesign“ genannt werden. Also keine langatmige, blutleere Analyse des Bestehenden, kein bloßes kritisches Hinterfragen, sondern eher ein Ansatz, sich den Entwicklungen so zu nähern, dass sie konkret wahrnehmbar werden.
Erzählungen und neues Denken
Globale Probleme brauchen globale Lösungen. Nach Auffassung von Dennis Snower (Eröffnungsrede des „Global-Solutions“-Summit vom 28.-29. Mai 2018 in Berlin) bedarf es zur Bewältigung der globalen Probleme neuer identitätsstiftender Narrative. Im Unterricht braucht es Erzählungen, die jene neuen Paradigmen schon in sich tragen, welche in weitblickenden Analysen bereits ausbuchstabiert werden. Es gibt sie bereits, doch werden sie häufig in ihrer Aussagekraft nicht genügend wertgeschätzt, weil sie nicht so recht zu den ‚bewährten‘ alten Begriffen passen wollen. Was steckt beispielsweise an inhaltlicher Bestimmung in der Rede vom ‚Wohlstand‘: Sind damit das Geldeinkommen und die Verfügbarkeit von zu konsumierenden Gütern gemeint oder sind es eher Fähigkeiten, Zeitressourcen, Gesundheit, Wohlbefinden, gar Glück? Neue Begriffsbestimmungen können sich aus innerer Resonanz mit dem, was heute schon geschieht, herausbilden – im Bewusstsein können sich so Ansätze neuer Realitäten entwickeln.
Entwicklung
Das Fortschrittsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts, dieses ‚Je-mehr-desto-besser‘ stößt an seine Grenze. Dass diejenigen, die nach uns kommen, ‚es einmal besser haben sollen als wir‘ und die Zukunft uns von Mühe und Not befreien werde, war eine lange gepflegte Erzählung, sie ist heute für viele nicht mehr gültig. Der Umbau vieler vertrauter Ziele und Wege ist nunmehr die Aufgabe. Da fällt es auf, dass sich außer der gestiegenen Verfügbarkeit äußerlicher Dinge zeitgleich auch ein Wandel im nicht-materiellen Bereich ereignet hat, bei den menschlichen Fähigkeiten, im sozialen Umgang, bei den Überzeugungen und Werten: ein immenser Zugewinn an persönlichem Freiheitsspielraum, eine Weiterentwicklung im gesellschaftlichen Miteinander bis hin in die rechtlichen Verhältnisse (z.B. gleichgeschlechtliche Ehe u.a.), zwar noch lange nicht überall etabliert und akzeptiert, aber erkennbar auf dem Weg in eine ,bessere‘ Zukunft. Diese Entwicklung ist nach oben offen und kennt keine ,Grenzen des Wachstums‘. Der Fortschrittsgedanke, der sich an äußerliche technologische Lösungen knüpft, steht in Frage, er kann sich in den Entwicklungsgedanken von menschlichem Potential umwandeln. Das Entwicklungsziel wäre dann nicht mehr eine noch weiter gesteigerte Verfügung über äußere Naturprozesse, sondern die Steigerung menschlicher geistiger, moralischer, ‚innerer‘ Möglichkeiten.
Es macht Sinn, sich zu vergegenwärtigen, was sich neben dem Weg in die Ausbeutung bzw. Zerstörung von Natur und Gewalt gegen Menschen an zivilisatorischem Prozess ergeben hat. Früher war eben weder alles besser noch alles schlechter. Vielmehr lohnt es sich, einmal genauer ins Auge zu fassen, in welchem Ausmaß sich rechtsstaatliche, friedliche, gewaltbefreite Lebensverhältnisse, dazu Werte von Freiheit, Gleichberechtigung, auch von sozialer Fürsorge entwickelt und realisiert haben. Diese Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und seiner institutionellen Folgen in den Blick zu nehmen, könnte dabei helfen, einem Denken den Boden zu entziehen, das bei äußerlich-materiellen Beschränkungen sogleich den Rückfall in die Steinzeit argwöhnt.
Die Dramatik und Herausforderungen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zusammenhänge sind inzwischen im Wesentlichen bekannt. Sie sollten als Fakten deutlich erscheinen, aber nur den Hintergrund bilden zu einer Zukunft, die sich derzeit bereits in Ansätzen in den Herzen und Köpfen zahlreicher Forscher, Denkerinnen, Aktivisten und Publizistinnen entwickelt. Auf die Aufbruchstimmung und Zukunftsfähigkeit kommt es ja vor allem an, denn wem ist, im Jugendalter zumal, mit Analysen und Kritik des Faktischen allein gedient?
Dann darf vielleicht sogar vom ‚guten Leben‘ die Rede sein, das sich eher nicht durch technischen Fortschritt und kaum durch ein Mehr von allem ergibt. Vielmehr wird es von Wertorientierungen, der Kultivierung persönlicher Fähigkeiten und einer aktiven, verantwortungsbewussten Lebenseinstellung abhängen und ganz sicherlich nicht durch einseitig beschworene Bilder von Gefahren, durch Zynismus oder Angstlähmungen verschiedener Art befördert werden. Und ausgemacht ist das Ende der Entwicklung, in der wir stehen, sowieso nicht: Insofern ist allein die Perspektive des Möglichen, der Offenheit, der Gestaltbarkeit von Zukunft eine sinnvolle Richtschnur.
„Wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben“, heißt es in einem Morgenstern-Gedicht. Sinn macht in unserem Zusammenhang vor allem ein Bemühen um konkrete Ziele der Nachhaltigkeit. Das ‚gute Leben‘ können wir heute nicht mehr ohne ein Miteinander mit den Kräften und Lebewesen der Natur gewinnen. Dass das so ist, mag für viele, die noch überwiegend im vergangenen Jahrhundert gelebt haben, eine neue Botschaft sein, für die im 21. Jahrhundert Geborenen sollte das zu einer Selbstverständlichkeit werden.
Perspektiven des Wandels
Nur eine Krise – tatsächlich oder wahrgenommen – führt zu echten Veränderungen. Wenn diese Krise auftritt, hängen die ergriffenen Maßnahmen von den herumliegenden Ideen ab. Ich glaube, darauf kommt es an: Alternativen zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu erhalten, bis das politisch Unmögliche zum politisch Unvermeidlichen wird. (Milton Friedmann 1962)
Wovon gehen wir aus? Endzeit oder Aufbruch? Sprechen wir von Möglichkeiten oder vom aktuellen Desaster? Sehen wir in der Zukunft überwiegend die Gefahren oder das Potential, das sie birgt? Verschiedene Zukunftsforscher und Autorinnen sehen den Wandel als eine Chance.
Es bedeutet nichts anderes als einen grundlegenden Paradigmenwechsel zu vollziehen, so Uwe Schneidewind, Präsident des ‚Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie‘ und Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit an der Bergischen Universität Wuppertal. Er beschreibt ihn als einen Übergang von der ,expansiven Moderne´ zur ,reduktiven Moderne´, zu einer Gesellschaft, die ein gutes Leben mit nur einem Fünftel des heutigen Verbrauchs an Material und Energie sichert, als ,große Transformation´ in den Bereichen Wohlstand und Konsum, Energie und Mobilität, Ernährung und Landwirtschaft, und nicht zuletzt als Anstoß zu einem tieferen Naturverständnis. Diesen transformativen Epochenübergang erleben wir zunächst als Wertewandel und als Umschwung in den Utopien des Wünschenswerten. Der Ausgangspunkt der Transformation ist ein Bewusstseinswandel, eine kulturelle Wende.
Stefan Ruf stellt die gegenwärtige Umbruchzeit in einen menschheitsgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang. Die massive Entfremdung von der Natur und der Mitwelt des Menschen wirke wie ein Mythos, und Mythen entfalten unglaubliche Kräfte. Glaubenssätze unseres aktuellen Mythos sind die Erzählung vom ewigen Wachstum, des ‚Immer-mehr‘, statt des Erlebens der kreislaufartigen Naturprozesse von Werden und Vergehen, der Wahrnehmung der Welt in weiten Teilen als etwas Totes, als etwas zu Konsumierendes. Er beschreibt die psychischen Konsequenzen dieses Weltbildes als Leere, Unrast, Angst etc. und erörtert Schritte zu ihrer Überwindung: Der Mensch ist in der Lage, sich seiner Ressourcen, seiner inneren Quellen oder ,ökologischen´ Seite zu vergewissern, sie zu spüren (,Achtsamkeit´) und sie zu denken, ja er kann an seinen inneren Qualitäten, seinen ,Seelenfähigkeiten´ arbeiten.
Doch wir sollten von den zivilisatorischen Errungenschaften ausgehen, die wir bereits – in liberalen, rechtsstaatlichen Verhältnissen – erreicht haben. „Wir können als Bewohnerinnen und Bewohner der Moderne auf eine – vielfältig gebrochene und oft ambivalente, aber doch – atemberaubende Geschichte humanen Fortschritts zurückblicken und einen zivilisatorischen Standard in Sachen Freiheit, Teilhabe, Sicherheit und Wohlstand genießen, der historisch beispiellos ist.“ (H. Welzer: Alles könnte anders sein).
„Dieses hehre Ziel (einer natur- und menschengemäßen Zivilisation) ist, man ahnt es, mit Moralismus und CO2-Diagrammen, mit Spezialworten sie ,Suffizienz´ und ,Resilienz´, mit Akronymen wie ,SDGs´ und ,IPCC´ nicht zu erreichen.“ D.h. Wissenschaftlichkeit ohne leidenschaftliches Fühlen, Wünschen und Begehren, ohne unsere Moralität, die zum ,richtigen‘, vernünftigen Handeln aufruft, werden wirkungslos bleiben.
„Erziehung besteht nicht in der Vermittlung von Sachen und Stoffen, sie besteht vielmehr in der Art des Handelns, Denkens und Sprechens.“ So äußerte sich Hannah Arendt über die Erziehung (zitiert nach: www.reinhardkahl.de/Archiv/HannahArendt/Liebe zur Welt). Für sie ist Denken und Urteilen bereits der Beginn des Handelns. Sie ergänzt wörtlich: „Im Politischen kann die konservative Haltung, die die Welt, so wie sie ist, akzeptiert, und nur danach strebt, sie in ihrem Status quo zu erhalten, nur ins Verderben führen, weil die Welt im Ganzen wie alle einzelnen Dinge in ihr unabänderlich dem Ruin der Zeit überantwortet ist, wenn die Menschen sich nicht entschließen, einzugreifen, zu ändern, Neues zu schaffen.“
Sich weiterentwickeln, im Bewusstsein zunächst, dann kulturell, ökologisch, sozial und wirtschaftlich, dieser anstehende Prozess braucht zweifelsohne ein neues Denken und Erkennen. Für diese Arbeit des Schöpfens aus dem inneren Potential ist gerade das Jugendalter, ist also der sogenannte Schulunterricht der Ort – wo sonst können die entscheidenden Grundlagen für wesentliche nächste Schritte gelegt werden?
Unterricht
„Das Projekt einer globalen humanen Zivilisation ist ein so wunderbares Ziel, unabhängig davon, ob wir es erreichen werden, dass es sich lohnt, jeden Tag dafür zu kämpfen.“ (Uwe Schneidewind im Interview mit der Zeitschrift ,Info3‘, Januar 2020)
Wer kennt das nicht? Man möchte Schülern und Schülerinnen etwas zeigen, einen Impuls mit auf den Weg geben, einfach eine interessante Unterrichtseinheit konzipieren oder einen anregenden Einstieg für das Klassengespräch mitbringen. Eine Idee ist da, doch fehlt es an dem dazu geeigneten schriftlichen Material, dem passenden Link im Netz oder der kommentierenden Beschreibung. Dabei gibt es sie in der Medienlandschaft, die Vordenkerinnen, Zukunftsermöglicher, Wegbereiterinnen, die Mutmacher und Vorbilder, für Jugendliche vielleicht manchmal etwas versteckt, aber auffindbar. Das wäre es: Die planetaren Grenzen als Leitplanken für unser Anschauen der Weltverhältnisse voraussetzen, doch diese Grenzen nicht als persönliche Grenzen beschreiben, sondern im Gegenteil: Wachstum, Kreativität, Innovation vordenken und erleben. Schneisen schlagen, Wege bahnen, Aufbrüche schildern. Den Pfadwechsel zu einem versöhnten Naturverhältnis einleiten, dazu die Machbarkeit wünschenswerter Zukünfte anschaulich beschreiben.
Eher Bewusstheit als Wissen
Zunächst benötigen wir als Grundlage die Darstellung der planetaren, ökonomischen, sozialen und menschheitlichen Verhältnisse. Aber von diesen bekannten Realitäten ausgehen und zeigen, wie es anders geht, darum sollte es gehen. Das ist eine andere Richtung, der Blick auf das Neue, Werdende: „Und genau darum geht es beim utopischen Denken und Handeln: der Wirklichkeitsbehauptung des Mainstreams eine oder mehrere überzeugende Behauptungen entgegenzustellen. Dann wird plötzlich die konventionelle Wirklichkeit porös und andere Möglichkeiten bekommen Kontur.“ (Welzer S. 293) „In modernen Wissensgesellschaften beeinflusst Wissen den Verlauf von Transformationsprozessen. Ob Herausforderungen rechtzeitig erkannt werden, ob ein gemeinsames Verständnis für wünschenswerte Zukünfte entsteht, ob Lösungen für ein Umsteuern erarbeitet werden, wird letztlich auch durch akademische Wissensproduktion mitbestimmt. […] Wie muss eine Wissenschaft aussehen, die die Transformationsprozesse zu einer nachhaltigen Entwicklung begleitet?“, fragt Uwe Schneidewind und diese Frage lässt sich direkt auf die Aufgaben der Schule übertragen. Er prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Möglichkeitswissenschaft“.
Fragehaltung statt Wissenstransfer
Wir wollen also von Fragen ausgehen. Wir stellen in Frage, lassen uns berühren, anrühren. Wir haben keine fertigen Antworten, Konzepte für die Weltprobleme, die wir besprechen. Wir kommen miteinander ins Gespräch. Wir gehen davon aus, dass wir im gemeinsamen dialogischen Bemühen Wege finden können, die sich zu gehen lohnen. Fragen, Wünsche und Themen bringen die Schülerinnen von selbst vor, und nur eine Lehrkraft, die dafür entweder kein Gespür hat oder dem keine Bedeutung beimisst, wird diese nicht berücksichtigen. Die Fragen sind gesellschaftlich schon gestellt, es sind unsere gemeinsamen Fragen, die Schülerinnen stellen sie latent oder artikuliert.
Begegnung und Dialog
Vielleicht beginnen wir mit dem Eingeständnis, dass wir selbst herzlich wenig darüber wissen, wo und wie wir ansetzen können. Die Komplexität des Zeitenwandels scheint unser Fassungsvermögen zu übersteigen. Wir dürfen indes davon ausgehen, dass die Jugendlichen gewillt und in der Lage sind, angesichts der aktuellen Krisensymptome aus ihrem eigenen Potential heraus neue Wege zu gehen. Doch nicht allein, orientierungslos, verloren im Netz der verwirrenden Informationsflut. Denn es geht nicht vorrangig um abzuspeicherndes Wissen. Der schulische Unterricht hat inmitten der Medienflut die Chance zum Dialog, zur Begegnung von Mensch zu Mensch. Die Qualität der Begegnung birgt die Möglichkeit, Erlebnisse im Unterricht zu haben, die anderswo in der Art kaum zu haben sind.
„Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“, fragt der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in persönlicher Betroffenheit über den von ihm wahrgenommenen Verlust von Qualität an den allgemeinbildenden Schulen, den er an weitgehend sinnfreien Interventionen der Schulbürokratie („Reformwahn“) sowie „phrasenhaften“ Einlassungen aus der Erziehungswissenschaft erblickt. Er wünscht sich neben mehr Schulautonomie einen Unterricht, in dem das freie, vertiefende Denken auf der Grundlage eines echten Textverständnisses, ausgehend von wirklichen Fragen, im Mittelpunkt des Unterrichts steht, und nicht ein gehetztes Abarbeiten willkürlicher Lehrplanvorgaben. Das hieße, dass es darauf ankommt, das gemeinsame Nachdenken über die Zukunft so anzulegen, dass aus der Wahrnehmung, der Begegnung mit den aktuellen Herausforderungen der Raum gestaltet werden kann für die inneren Bilder, Ideen, Intuitionen, aus denen heraus sich Zuversicht, Kraft, Gestaltungswille ergeben.
In unserem Zusammenhang kann der Lernprozess nur ein gegenseitiger sein, auf Augenhöhe sich entwickeln. Jugendliche sprechen in unbekümmerter Art von dem, was in ihnen lebt, inhaltlich, aber auch in einer Art und Weise, zu der die Lehrenden als ältere Gesprächspartner nicht in der Lage wären. Zum Beispiel Themen wie Massentierhaltung, Hausbau mit Materialien aus der Kreislaufwirtschaft, oder Modedesign aus Up-Cycling-Stoffen. In solchen Unterrichtsstunden ist spürbar, welches Erneuerungspotential, welche Qualitäten durch wechselseitiges Zuhören und Wahrnehmen entstehen können. Wenn eine Schülerin sich mit dieser Frage beschäftigt, entstehen Gestaltungsideen, die in keiner Unterrichtsvorbereitung vorausgedacht oder -geplant werden können. Es bedarf jedoch sachlicher Hinweise für solche Lernwege, benötigt sind Brückenschläge in die Realität, der sog. ‚Input‘.
Es geht um die innere Haltung: Die Gesprächspartnerin fühlt sich von mir angesprochen, wenn das Gefühl entsteht, der Lehrer spricht sowohl von sich als auch für mich. Verzichten wir also auf Lehrer-Sprechblasen, die einfache Ich- oder Du-Botschaften enthalten, bemühen wir uns, nicht dem anderen die eigene Befindlichkeit aufzudrängen, sondern in der Sprache einen Raum der An-Sprache zu öffnen, in dem Ich und Du sich begegnen. So können wir konkreter Phantasietätigkeit einen Raum gewähren, wie das ‚gute Leben‘ mitfühlend und mitlebend mit den Naturkräften und den Mitmenschen zu gestalten wäre.
Uwe Schneidewind fasst seine konkrete Vision des Wandels so zusammen: „Diese Grundüberzeugungen haben meiner Ansicht nach letzten Endes einen transzendenten Fluchtpunkt. Wenn man nur nüchtern auf die Welt schaut, dann lässt sich mit rein rationalen Argumenten nicht begründen, ob wir nun eine Welt haben, in der ein jeder des anderen Wolf ist und wir es nur gelegentlich schaffen, den Zustand des Krieges jeder gegen jeden zu befrieden – ob wir also nichts anderes haben als ein auf materialistische Werte reduziertes Kampffeld, bei dem es um nichts geht. Oder ob wir Wesen sind, in denen ein besonderes humanistisches Potential schlummert, ob es das größte Geschenk der menschlichen Existenz ist, an dieser humanistischen Idee teilzuhaben und sich in sie einzubringen können. Die tiefe innere Gewissheit zu spüren, dass in uns Menschen ein Mehr angelegt ist, hat ein gewaltiges Potential. […] Wo bekomme ich Richtungssicherheit her? Das kann sich nicht mehr nur rein rational transportieren, wir müssen umfänglich aufnehmen, was in der Gesellschaft und in uns selbst angelegt ist. Und wenn es um eine moralische Revolution geht, dann muss ich erspüren, wo sich das heute manifestieren will und was das für mein Handeln in einer Organisation oder in der Politik bedeuten muss.“ Und weiter: „Das Neue ist denkbar, in den Bildungseinrichtungen muss der Raum dafür gegeben sein, diese Denkansätze schrittweise in institutionelle, organisatorische, politische und technologische Wirklichkeit zu überführen.“ (Zeitschrift ,Info3‘, Januar 2020)
Zur Auswahl der Materialien
Man muss ja dorthin wollen können, und dafür braucht es attraktive, reizvolle, anziehende Bilder und Vorstellungen, die an Träume und Geschichten anknüpfen, die Menschen sowieso haben. (Welzer S. 287)
Die Sammlung ist entstanden aus der Erfahrung, dass es nicht immer leicht ist, angesichts der üblichen medialen Meldungen den Blick auf wünschenswerte konkrete und praktikable Zukünfte zu schärfen. Ihre Zielrichtung wird nicht überraschen. Die einzelnen Texte sollen die Möglichkeit bieten, über den Tag hinaus Ideen und Ansätze anzuregen, die Neues mit sich bringen und somit trotz allem zu Hoffnung Anlass geben. Sie basiert auf den grundlegenden Ausführungen zum Sozialkundeunterricht an Waldorfschulen, die von Till Ungefug unter dem Titel „Perspektiven der Sozialkunde“ vorgelegt wurden, und versucht, diese Überlegungen für die vorliegende Thematik zu konkretisieren und im Unterricht handhabbar zu machen.
Für eine anregend-produktive Atmosphäre ist das Verhältnis von medialem Input zu freier, eigener Gedankenbildung sowie dem Austausch darüber im Gespräch entscheidend. Die hier vorgestellten Materialien sind daher vom Umfang her so gefasst, dass der Informationsinput für einen üblichen Unterrichtsvorgang passend ist.
Nachbemerkung zum methodischen Ansatz der Waldorfpädagogik
Der Ansatz der Waldorfpädagogik bedeutet in diesem Zusammenhang den Perspektivwechsel vom vorab festgelegten Lernziel hin zum Erleben der Schülerin und des Schülers, dass auf die latenten Fragen, die Sinnsuche, den Wunsch nach Verstehen und sich Einbringen in die Verhältnisse der Welt eingegangen wird, damit das Leben bewältigt werden kann. Also eine Didaktik, die von der Schülerin her denkt und daraus die Gesichtspunkte für den Unterricht ableitet.
Jochen Ketels
Literatur:
Carpus e.V.(Hg.): Globales Lernen – Inspirationen für den transformativen Unterricht, 2021 / verfügbar unter https://www.wbv.de/shop/themenbereiche/schulpaedagogik/shop/detail/name/_/0/1/6004865/facet/6004865///////nb/0/category/1594.html
Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?, Berlin 2019
Stefan Ruf: Klimapsychologie, Frankfurt am Main 2019
Till Ungefug: Perspektiven der Sozialkunde, Kassel 2017
Harald Welzer: Alles könnte anders sein, Frankfurt am Main 2019