Sorge und Sinn

Wirtschaft ist Care

von Ina Praetorius / Heinrich-Böll-Stiftung, 2015

Es ist selbstverständlich, dass alle Menschen jederzeit bedürftig und Teil der großzügigen, verletzlichen und begrenzten Natur sind, dass sie gleichzeitig in Bezogenheit frei sind, ihr Zusammenleben vernünftig, arbeitsteilig und zukunftsfreundlich zu organisieren.

Es ist selbstverständlich, dass im großzügigen Kosmos genug für alle da ist, wenn niemand über die Verhältnisse aller lebt. Die grassierende Angst, zu kurz zu kommen, und der entsprechende Zwang, den eigenen Vorteil in die Mitte von allem zu stellen, sind nicht natürlich, sondern gezielt erzeugt.

Es ist selbstverständlich, dass bestimmte Produkte und Dienstleistungen sinnvoll auf Märkten gegen Geld gehandelt werden, andere nicht. Es versteht sich daher auch von selbst, dass es neben Geld, kalkulierten Tauschgeschäften und Märkten viele andere Institutionen und Praxen gibt und braucht, mit denen menschliche Bedürfnisse befriedigt werden und die daher Teil der Ökonomie sind.

Es ist selbstverständlich, dass Menschen als bezogen-freie Wesen mehr mehren wollen als ihren persönlichen Vorteil, dass also das Menschenbild des homo oeconomicus in der herkömmlichen Lesart zu kurz greift. (1)

Unter dem Stichwort „Care“ werden seit den 1970er Jahren politische, philosophische und wirtschaftliche Alternativen entwickelt und diskutiert, die das Leben und seine Erhaltung in den Mittelpunkt stellen. Das englische Wort „care“, das ins Deutsche übersetzt Fürsorge, aber auch Achtsamkeit, Obhut, Pflege und Umsicht bedeutet, steht dabei zum einen für das Bewusstsein von Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Bezogenheit als menschliche Grundkonstitutionen und zum anderen für konkrete Aktivitäten von Fürsorge in einem weiteren Sinne. Es geht um ein „Sorgen für die Welt“, und zwar nicht nur durch pflegerische und sozialarbeiterische Tätigkeiten oder Hausarbeit im engen Sinn, sondern auch durch den Einsatz für einen kulturellen Wandel. (2)

Alltagspraktisch und vorurteilslos gesehen ist offensichtlich, dass Care-Tätigkeiten – Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln, Trösten, Pflegen, Zuhören, Sinn stiften usw. – nicht nur zum Gegenstandsbereich der Ökonomie gehören, sondern ihm sogar unmittelbarer zugeordnet werden können als (viele Dinge und Tätigkeiten, die) in den Geldkreislauf einbezogen sind.  (3)

Warum meint man, es brauche zum Arbeiten „finanzielle Anreize“, und gleichzeitig leben alle täglich von der Arbeit derer, die ohne solche Anreize kochen, waschen, putzen, pflegen, zuhören und aufräumen? Warum tun viel mehr Frauen als Männer in Privathauhalten noch immer, was notwendig ist, auch wenn niemand sie dafür bezahlt? Weil man sie daran gewöhnt hat, weil sie sich mitten im Spätkapitalismus einen Rest Vernunft bewahrt haben, oder weil es Sinn ergibt und Freude macht, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, nicht nur aus „Eigenliebe“, sondern aus Notwendigkeit, Wohlwollen, Freiheit, Liebe oder wie auch immer man nennen wird, was über den engen Horizont des homo oeconomicus hinausweist?

Wie lassen sich Care-Tätigkeiten – lohnförmig oder anders – so honorieren und sichern, dass gutes Leben in bezogener Freiheit für alle Realität werden kann? Hat das nur scheinbar allgemeingültige Prinzip „Geld für Leistung“ eine Zukunft? Muss menschliches Zusammenleben, jedenfalls basal, aufgrund eines anderen Prinzips, das „Grundeinkommen für Dasein“ heißen könnte, neu organisiert werden? (4)

  • Praetorius, Ina: Wirtschaft ist Care, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 2015, S. 56
  • aaO S. 51
  • aaO S. 52
  • aaO S. 54