Kapital im Kreislauf

Die Idee von der Dreigliederung des Sozialen Organismus

Gemeinschaft und Individuum, Soziales und eigenständige Persönlichkeit, Arbeit und Kapital, Sozialismus und freie Marktwirtschaft: um diese Polaritäten dreht es sich bei der gesellschaftspolitischen Gestaltung. Ideologien beton(t)en jeweils den einen Pol und sehen in ihm die Lösung der wesentlichen Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft.

Wie diese Gegensätze im gesellschaftlichen Zusammenhang so organisiert werden können, dass sie sich nicht behindern oder bekämpfen, wird schon seit der Zeit des ersten Weltkriegs beschrieben.

von Valentin Wember

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war abzusehen, dass die alten Gesellschaftsformen zusammenbrechen würden. 1917 kam es zur russischen Revolution, 1918 brach die Revolution in Deutschland aus. Die Monarchien verschwanden. Im kommunistischen Russland kam es nicht nur zu einer neuen politischen Führung, sondern vor allem zu einer neuen Wirtschaftsordnung. An die Stelle des Privatkapitalismus trat der Staatskapitalismus. Alle Banken, alle größeren Industrien und Betriebe wurden verstaatlicht, auch die Landwirtschaft. Nach der marxistischen Ideologie müssen die Produktionsmittel (Kapital, Fabriken, Grund und Boden) der Gemeinschaft gehören und nicht einzelnen Kapitalisten. Bekanntlich hat die Sache nie gut funktioniert. Der Einzelne hatte viel zu wenig Verantwortung und viel zu wenig Ansporn. Und deshalb funktionierte das System nur unter massivem Druck und das auch nur zwei Generationen lang. Auf der anderen Seite steht der Privatkapitalismus, der dazu führt, dass sich der Besitz in den Händen einiger weniger anhäuft, während die überwältigende Mehrheit und die Gemeinschaft immer weniger besitzt.

Rudolf Steiner entwickelte seit 1917 die Ideen zu einer Gesellschaftsform, in der die beiden sich ausschließenden Gegensätze – Staatskapitalismus und Privatkapitalismus – von ihren einseitigen und verhängnisvollen Schwächen befreit werden und zwar durch einen zeitlichen Kreislauf. Extrem verkürzt dargestellt: Der einzelne Unternehmer ist in der sogenannten „sozialen Dreigliederung“ für „sein“ Unternehmen voll verantwortlich. Er führt es. Aber mehreres kann er nicht: er kann das Unternehmen nicht verkaufen oder vererben. Scheidet er aus der Unternehmensführung aus, so geht das Unternehmen für eine kurze Zeit an die Gemeinschaft über. Die Gemeinschaft sucht dann einen neuen Unternehmensleiter, den sie für geeignet hält. Diesem wird dann das Unternehmen als sogenanntes Nutzungseigentum überantwortet, für das er in der Folge – bis zu seinem Ausscheiden – voll verantwortlich ist.

Auf diese Weise wird beiden Seiten Rechnung getragen, dem Einzelnen und der Gemeinschaft, der privaten Initiativkraft und Verantwortung und dem Wohl der Gemeinschaft. Ein Unternehmen gehört sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft. Nacheinander. Der Gegensatz löst sich auf durch die Zeit.

In dieser Idee liegt zugleich auch der entscheidende Hinweis darauf, wie man eine Organisation durch die Gemeinschaft ihrer Mitglieder als auch durch voll verantwortliche Einzelne führen kann: Die Gemeinschaft überträgt für eine bestimmte Zeit den verschiedenen Mitgliedern auf verschiedenen Gebieten die volle Verantwortung. Nach der verabredeten Zeit aber geht die Verantwortung wieder an die Gemeinschaft zurück. Und so entsteht ein lebendiger Kreislauf, der die Potentiale und die Verantwortung des Einzelnen stärkt und dadurch Verantwortung der Gemeinschaft wahrnimmt und verwirklicht.

Eine ausführliche Darstellung findet sich bei: J. Luttermann, Dreigliederung des sozialen Organismus. Grundlinien der Rechts- und Soziallehre Rudolf Steiners. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1990 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 31, Politikwissenschaft; Bd. 162) Zugl.: Göttingen, Univ. Dissertation 1989

aus: Valentin Wember: Wille zur Verantwortung, S. 37/38  /  2012