Wall Street, New York

Finanzmärkte: Die Straße der Tyrannen

von Kerstin Kohlenberg, Mark Schieritz und Wolfgang Uchatius / Die ZEIT, 2011

Brüssel, 27. Oktober 2011, vier Uhr früh. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy tritt vor die Journalisten. Nach zehnstündigen Verhandlungen beschreibt er den Inhalt des neuen, 1,4 Billionen Dollar schweren Rettungspakets für Griechenland. Ein französischer Journalist unterbricht ihn. Dollar? Es geht doch um die Euro-Krise. Natürlich Dollar, antwortet Sarkozy irritiert. Schließlich werde diese Pressekonferenz weltweit wahrgenommen. Er, Sarkozy, kommuniziere hier mit jenen, die für gewöhnlich in Dollar rechnen. Den internationalen Finanzmärkten. Den neuen Herrschern der Welt.

Ein Verlust ist anzuzeigen in diesen Wochen und Monaten der Krise. Offenbar haben die bedeutendsten Regierungschefs der Erde, die sich an diesem Wochenende beim G-20 -Gipfel trafen, ausgerechnet das verloren, was ihnen ihre Bedeutung gibt: die Macht. Nicht mehr in den Hauptstädten der Welt scheint sie zu wohnen, sondern an einem geheimnisvollen Nirgendwo, dem sogenannten Finanzmarkt . Dort, im Kreise von Brokern und Bankern, von Händlern und Investoren, muss sie zu finden sein.

Ein Mann, der sich gut dafür eignet, mit der Suche nach Erklärungen zu beginnen, heißt Ted Weisberg. Er arbeitet dort, wo man die Machtzentrale der internationalen Finanzmärkte am ehesten vermuten kann: an einer nur 600 Meter langen Straße im Süden von New York. Der Wall-Street. Weisberg verschiebt Geld, alle Börsenhändler verschieben Geld, es ist der Rohstoff, den diese Fabrik verarbeitet, den sie in die einzige Ware verwandelt, die an den globalen Finanzmärkten hergestellt wird: Zahlen, unendliche Mengen von Zahlen. Nicht nur an der Wall Street werden sie produziert, jeden Tag aufs Neue, sondern auch in Frankfurt und Singapur, Johannesburg und São Paulo, überall dort, wo diese Finanzfabriken stehen, die Börsen und Handelsräume, die ihre Zahlen in Sekundenbruchteilen um die Erde verbreiten, unter Meeren hindurch, über Kontinente hinweg.

Sie sind nichts anderes als Preise, diese Zahlen, die Preise von Aktien und Anleihen, von Optionsscheinen und Terminkontrakten. Sie beziffern den Wert von Unternehmen und die Finanzkraft von Staaten, sie geben an, was ein Fass Öl kostet und eine Unze Gold, aber auch, wie viel man für ein Pfund Zucker zu bezahlen hat, für ein Kilo Orangensaftkonzentrat und einen Bushel Weizen, 27,2 Kilogramm. Es ist der Preis der Welt, der hier berechnet wird. Die Zahlen, die in jeder Sekunde aus den Käufen und Verkäufen der Gesamtheit aller Börsenhändler entstehen, können der Welt nicht egal sein.

10.45 zeigt die Uhr über Weisbergs Kopf. Die Aktie der Deutschen Bank liegt bei 35,60 Dollar. In den vergangenen sechs Monaten hat sich ihr Wert fast halbiert. Wenn er weiter fällt, wird der Vorstand der Bank unter Druck geraten. Angestellte könnten entlassen, Teile des Unternehmens verkauft werden. Das ist die Macht dieser Zahl, auch die Bank bekommt sie zu spüren.

12.23 Uhr. Der Zinssatz, den der spanische Staat an seine Gläubiger bezahlen muss, ist auf 5,56 Prozent gestiegen. Schon jetzt müssen die Spanier jährlich 20,4 Milliarden Euro für Zinsen aufwenden. Es ist Geld, das für den Bau von Schulen und Straßen fehlt, für die Unterstützung von Arbeitslosen und Rentnern. 5,56 Prozent – wenn der Wert weiter steigt, steht Spanien vor der Pleite. Das ist die Macht dieser Zahl.

14.17 Uhr. Der Preis für ein Bushel Weizenliegt bei 6,25 Dollar, fast doppelt so hoch wie noch vor sechs Jahren. In vielen Entwicklungsländern müssen die Menschen am Mehl und am Brot sparen. Das ist die Macht dieser Zahl. Es fällt nicht schwer, zu erkennen, welch enormen Einfluss die Zahlenfabriken haben. Sie verordnen Wohlstand und Vollbeschäftigung – oder Arbeitslosigkeit und Hunger. Wenn sich der Weltmarktpreis für Weizen erhöht, mag das daran liegen, dass es zu wenig Getreide auf der Welt gibt. Dann ist das so, als würde diese Zahl sagen: „Bauern, baut mehr Weizen an, auf der Erde gibt es nicht genug.“ Jede Zahl, die die Finanzmärkte produzieren, ist ein Wegweiser – und die Wall Street die Straße in eine bessere Zukunft. So könnte es sein. So ist es auch, glaubten Wirtschaftsforscher jahrzehntelang. Ihre Theorie: Wenn Tausende Investoren mit wirtschaftlichem Sachverstand die Preise von Wertpapieren und Rohstoffen festlegen, dann geben diese Preise die Wirklichkeit wieder. Inzwischen glaubt kaum noch jemand an die Weisheit der Finanzmärkte.

Der Weizenpreis und die Familie Raines

Die Bauern der Welt haben nicht zu wenig Weizen angebaut. Die Lagerhäuser sind ordentlich gefüllt. Trotzdem kann Rosario Raines jetzt ihrer Bäckerei beim Sterben zusehen.

Um die Mittagszeit kommt sie heim in ihr kleines Haus am Rand der mittelamerikanischen Millionenstadt San Salvador. Rosario Raines ist 42 Jahre alt, eine stämmige Frau, die einmal dachte, das Leben habe es gut mit ihr gemeint. Jeden Tag stand sie in einer niedrigen Hütte vor dem Haus, zusammen mit ihrem Mann. Sie kauften Mehl und backten Brot, formten Schweinsohren und schoben Kuchen in den Ofen. Bald belieferten Rosario und Mauricio Raines mehr als 30 Geschäfte, sie kauften einen Pick-up, um die Brote auszufahren, stellten drei Arbeiter ein. Zum Essen gingen sie jetzt ins Restaurant. Den ältesten Sohn schickten sie auf die Universität, trotz der hohen Studiengebühren von umgerechnet 3,60 Euro am Tag. Sie hatten genug Geld, und ihr Sohn sollte später nicht mit den Händen arbeiten müssen. Er sollte Anwalt werden.

Heute hilft er in der Bäckerei, das Jurastudium hat er abgebrochen. Das Leben der Familie Raines ist aus der Bahn geraten, seit an den Finanzmärkten eine ganz bestimmte Zahl zu wachsen anfing: von drei Dollar auf vier, auf sechs, zwischenzeitlich sogar auf mehr als acht Dollar. Es ist der Weltmarktpreis für ein Bushel Weizen. Mit dem Weizenpreis stieg auch der Mehlpreis in El Salvador, der Gewinn der Bäckerei Veronica sank.

Zuerst hörten sie auf, ins Restaurant zu gehen. Dann versuchten sie, ihrerseits die Preise zu erhöhen, aber da wurden sie ihre Brötchen nicht mehr los. So verkauften Rosario und Mauricio Raines ihren Pick-up, entließen die Angestellten, strichen den Kuchen und die Kekse aus ihrem Angebot, weil sie keinen Gewinn mehr brachten. Das Geld reicht trotzdem nicht. Umgerechnet 6,32 Euro hat Rosario Raines an diesem Tag auf dem Markt verdient. Mehr bleibt ihr nicht, um das Essen für ihre Familie zu kaufen. Die Raines wissen nicht mehr, wie lange sie noch das Schulgeld für ihre Kinder bezahlen können. Der Weizenpreis ist stärker als sie.

Der Hochgeschwindigkeitshandel

Den Weizenhändlern von heute interessieren sich nicht unbedingt für das Wetter und die Wirklichkeit. Sie haben eine bessere Methode entwickelt, um gute Geschäfte zu machen. Man begreift das, wenn man Adam Nunes besucht. Auch hier wird mit Wertpapieren gehandelt. Vorsichtig führt Nunes durch die Räume, in denen es so still ist wie im Lesesaal einer Bibliothek. Hier laufen keine Wirtschaftsnachrichten, hier hängen keine Fernseher an den Wänden. Junge Männer sitzen vor Bildschirmen und blättern in Informatik-Büchern. Viele haben asiatische Gesichter. Keiner hat Ökonomie studiert. Die meisten sind Mathematiker oder Computerwissenschaftler. „Viele Harvard-Absolventen“, sagt Nunes leise. Dann ist es wieder still, nur die Tastaturen klackern.

Es sind Kauf- und Verkaufsbefehle, die in der Geräuschlosigkeit dieser Räume auf den Weg gebracht werden, hin zu den Börsen der Welt. Hudson River Trading handelt mit allem, was man handeln kann, mit Aktien, Staatsanleihen, Rohstoffen, mit Anteilen der Deutschen Bank, mit Zinspapieren des spanischen Staates, mit Weizen. Anders als bei Ted Weisberg auf dem Parkett der New Yorker Börse interessiert sich hier niemand für Unternehmensbilanzen oder Haushaltsdefizite.

Man muss nichts von Wirtschaft verstehen, um in den Zahlenfabriken zu arbeiten – bloß die Logik der Fabriken muss man begreifen. Das ist die Geschäftsidee von Hudson River Trading. Die jungen Männer im 30. Stock schreiben Computerprogramme, die in Sekundenbruchteilen Börsentrends erkennen. Die Rechner können dann herausfinden, ob andere Investoren im großen Stil Papiere kaufen oder verkaufen. Dann kaufen oder verkaufen sie mit, dann treiben sie die Zahlen in die gewünschte Richtung. Wenn es gut läuft, verdienen sie dann ein paar Millionen Dollar in kürzester Zeit. Dann, wenn ihr wichtigster Mann wieder schneller war als alle anderen.

Der wichtigste Mann? Ja, man dürfe ihn besuchen, heute, ausnahmsweise, diesen besten aller Mitarbeiter von Hudson River Trading, sagt Adam Nunes und geht voraus, den Gang entlang, bis zu einer roten Wand. Dahinter ist das Zentrum der Macht. Durch ein kleines Fenster ist er zu sehen: Schwarz und glänzend steht er da, das halbe Stockwerk nimmt er ein. Hin und wieder glimmen ein paar Leuchtdioden. Der Großrechner arbeitet. 3.000 Wertpapiere kann die Maschine innerhalb einer Sekunde kaufen oder verkaufen. Man nennt es High Frequency Trading. Hochgeschwindigkeitshandel.

Mithilfe der Maschinen kaufen und verkaufen die wenigen Hochgeschwindigkeitshändler heute bis zu 70 Prozent aller in den USA gehandelten Aktien. Das erinnert an die Einkommensverteilung in den USA. Immer mehr Geld fließt auf immer weniger Konten. Oder anders gesagt: Die Zahlen haben die Macht über die Welt übernommen. Und die Rechenmaschinen der Großanleger haben die Macht über die Zahlen. Aus der Herrschaft der Zahlen ist eine Tyrannei geworden.

Der Versuch, der Macht der Maschinen etwas entgegenzustellen

Es gibt auch Anleger, die versuchen, sich gegen die Kraft der Computer zu stellen. Die überzeugt sind, dass es an den Finanzmärkten um Wirtschaft gehen sollte, nicht um Rechenspiele. Meist müssen sie erschöpft aufgeben. Zu stark sind die Maschinen. Auch Max Holzer musste das einsehen. Er ist ein 50-jähriger, korrekt gekleideter Mann, seriös, ein bisschen bieder, in seinem Büro steht eine pflegeleichte Zimmerpflanze. Er könnte Angestellter einer Volksbank oder Sparkasse sein. Genau genommen ist er das auch. Max Holzer arbeitet in Frankfurt, bei einem Unternehmen, das zur Finanzgruppe der Volks- und Raiffeisenbanken gehört. Diese sogenannten genossenschaftlichen Geldinstitute wurden einst nach den Idealen der Selbstverwaltung und Selbsthilfe gegründet. Die Volks- und Raiffeisenbanken gehören keinen Großaktionären, sondern vielen Tausend kleinen Mitgliedern. Hier verdient niemand Millionengehälter.

Holzers Unternehmen ist Union Investment, eine Fondsgesellschaft, die das Geld mehrerer Millionen Privatkunden an der Börse investiert. Es ist das Geld von Lehrerinnen und Briefträgern, Verkäuferinnen und Ingenieuren. Alle zusammen haben 170 Milliarden Euro eingezahlt. Union Investment legt das Geld in Wertpapieren an. Aber in welchen? Welche Aktie ist rentabel, welche Anleihe lukrativ? Das entscheidet Max Holzer, Leiter der Abteilung Asset Allocation. Wie Ted Weisberg analysiert er die wirtschaftlichen Daten: Gewinnentwicklungen, Wachstumsraten, Schuldenstand.

Doch das allein genügt nicht. Was, wenn der Großrechner von Hudson River Trading anfängt, spanische Staatsanleihen abzustoßen, obwohl das Land solide wirtschaftet? Was, wenn die Computer von Goldman Sachs und der Bank of America den Trend erkennen und ebenfalls Verkaufsbefehle abschicken? Max Holzer denkt einen Moment nach. Dann sagt er: „Wenn alle anderen verkaufen, ist es schwer, sich gegen den Trend zu stellen.“ Dann sei es sicherer, sich mit der Macht zu verbünden und ebenfalls zu verkaufen. Selbst wenn der Sachverstand dagegenspricht.

Falsche Preise

Übertreibungen in die eine oder andere Richtung habe es an den Finanzmärkten immer schon gegeben, sagt Max Holzer. „Aber was wir jetzt erleben, hat eine neue Qualität. Stabilisierende Elemente gehen verloren.“ Was geschieht, wenn Tausende Anleger den wirtschaftlichen Sachverstand beiseitelassen, absichtlich oder unabsichtlich? Die Zahlenfabriken produzieren dann immer noch Zahlen und Preise, so wie früher. Und die Welt hält diese Preise für Wegweiser, so wie früher. Aber die Preise sind dann falsch. Die Wegweiser zeigen in die falsche Richtung. Die Wall Street führt dann nicht mehr in eine bessere, reichere Welt. Sie führt die Welt ins Verderben

Es ist nicht so, dass es keine Ideen gibt für neue Gesetze, die die alte Welt zurückbringen könnten. Eine sogenannte Finanzmarkttransaktionssteuer gehört dazu, die das tausendfache Hin-und-her-Handeln von Wertpapieren verteuern würde. Außerdem: das Verbot bestimmter hochspekulativer, die Preise verzerrender Finanzprodukte. Neue Regeln und zusätzliche Kontrollen für Hedgefonds und große Banken, das Verbot des Hochgeschwindigkeitshandels.

3. 11. 2011, DIE ZEIT Nr. 45/2011, gekürzte Fassung von jk