Annäherung an den Begriff

Das Konzept des Kapitalismus

von Jochen Ketels

„Kapitalismus tötet“

„Die Krise heißt Kapitalismus“

„Das Virus ist der Kapitalismus“

„Klimakiller Kapitalismus“

In der Tat gibt es ein weit verbreitetes Unbehagen an der Verfasstheit unserer Wirtschaft. Die Art und Weise, wie heute produziert wird, hat einerseits eine noch nie dagewesene Fülle an Gütern und Dienstleistungen hervorgebracht und großen Teilen der Menschheit auf allen Kontinenten zu einem auskömmlichen, gesicherten, sogar üppigen Lebensstil mit weitreichenden persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten verholfen.

Andererseits ist offenkundig, dass diese Möglichkeiten teuer erkauft wurden und immer noch werden, dass Raubbau und Gewaltausübung, Ungerechtigkeit und Missachtung der Menschenrechte und Borniertheit gegenüber den Belangen der Natur bis heute die schrille Begleitmusik dieser erfolgreichen Entwicklung darstellen. Ja, ein ungebremstes Fortführen der gegenwärtigen Wirtschaftsweise in Produktion und Konsum bedroht jetzt die Lebensgrundlagen auf dem Planeten.

Der Mensch ist verantwortlich für das, was er tut, und wir wissen: „eine andere Welt ist möglich“, doch sind die Wege dorthin meist unklar und diffus. Möglich und nötig erscheint aktuell ein Veränderungsschub, den viele Menschen ersehnen, für den viele gewillt sind sich einzusetzen, der aber nicht nur Tatwillen, sondern auch Klarheit in den Köpfen erfordert: worum genau geht es da gerade eigentlich? Und es wäre schön, besser zu verstehen, wie das geht: verändern, abschaffen, erneuern oder revolutionieren. Ob der Kapitalismus sich in seiner Erscheinungsform wandeln oder ob er überwunden werden muss: die entscheidenden Stellschrauben des Wandels genauer in den Blick zu bekommen, das würde sich allemal lohnen.

Was ist eigentlich genau der viel beschworene Kapitalismus? Und warum muss auch er sich wandeln?

„Die ökologische Wende erfordert eine andere Wirtschaftsordnung“ (Uwe Schneidewind).

Der stärkste Garant der modernen Wohlstandsgesellschaften und zugleich der Motor vieler aktuell zu beobachtender Umweltveränderungen ist die bestehende internationale Wirtschaftsordnung. „Ein großer Trugschluss der Umweltdebatte in den letzten 30 Jahren war die Hoffnung, dass sich eine ökologische Wende im Wesentlichen mit einem technologischen Innovationsprogramm in der bestehenden Wirtschaftsordnung umsetzen lässt.“ (1) Kapitalismus ist „die Kombination aus Marktwirtschaft und Privateigentum. Marktwirtschaft bedeutet, dass Güter und Dienstleistungen gemäß der Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit von Marktpartnern verteilt werden und nicht aufgrund ihrer Bedürftigkeit.“ (2)

Die Bereitschaft oder Haltung, Güter und Dienstleistungen gemäß dem Bedarf zu verteilen, nennt man Solidarität, Brüderlichkeit. Sie ist der Kern der sozialistischen und ursprünglich kommunistischen Idee. Privateigentum bedeutet, dass Menschen Güter erwerben und behalten und sie dadurch dem Zugriff der Gemeinschaft entziehen, sie nach Belieben zu ihren eigenen, nur selbstbestimmten Zwecken einsetzen können (lateinisch: privare = berauben). Insofern ist das Privateigentum einerseits der materielle Garant der freien Entfaltung der Persönlichkeit, andererseits gemeinschaftsschädigend, sofern es nicht unter gemeinnützigen Zwecken verwendet wird.

Wird mehr privates Eigentum angehäuft als aktuell verbraucht werden kann, entsteht aus diesem Überschuss Kapital. Der Einsatz von Kapital ist eine Grundbedingung für eine effektive, produktive Wirtschaft. „Das Besondere am Kapitalismus ist, dass erstens der Anhäufung (Akkumulation) von Kapital keine Grenzen gesetzt werden“ (3), und sich in Folge davon eine kostengünstige, rationale, effektive Produktion ins fast Unermessliche hat steigern lassen. Zum zweiten die Übereinkunft, dass Kapital als Privateigentum behandelt wird.

Soll die Verfügung über das Kapital nicht länger in privater Hand liegen, so wäre dies ein wesentlicher Schritt zur Weiterentwicklung bzw. Überwindung der inzwischen schädlichen Folgen der kapitalistischen Überproduktion. In der sozialistischen Tradition nannte man das die „Vergesellschaftung“ (faktisch Verstaatlichung) des Kapitals. Aus bestimmten Gründen heraus hat sich dieser Weg als unproduktiv erwiesen. Es gilt insofern, neue Wege zu finden, die es ermöglichen, Kapital nicht eigennützig, sondern gemeinnützig einzusetzen.

Die Macht der Märkte

„Die globale Verbreitung des…Kapitalismus hat dazu geführt, dass heute so viele Menschen wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte in einem eindrucksvollen materiellen Wohlstand leben können. Tatsächlich war der Kapitalismus darin so erfolgreich, dass in vielen entwickelten Regionen der Welt Knappheitsgesellschaften zu Überflussgesellschaften wurden. Mehr noch: in einer in vielen Bereichen von Überproduktion und Überkonsumtion geprägten Welt wird die Aufrechterhaltung dieser Überproduktion und Überkonsumtion zu einem wichtigen Stabilitätserfordernis des globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Diese durch eine zunehmende Marktorientierung erreichte Wohlstandssteigerung geht … jedoch einher mit einer Verselbständigung der Wirtschaft gegenüber der Gesellschaft. Die kapitalistische Marktgesellschaft besteht nicht nur einfach aus der Kombination von Privateigentum und Marktwirtschaft, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich in fast alle Gesellschaftsbereiche ausdehnt, so dass sie gesellschaftsprägend wird (Phänomen der ,Entbettung´). Die ,Wiedereinbettung´ der Märkte ist nur dann möglich, wenn Land, Arbeit und Geld nicht mehr beliebig frei handelbare und im Preis variable Güter sind, sondern die Gesellschaft die Strukturen und Regeln der Wirtschaft von ihrer Zweckmäßigkeit für die Strukturen und Regeln des sozialen Zusammenhalts abhängig macht.

Das Funktionieren der Prinzipien der heutigen Wirtschaftsordnung ist demnach in einem hohen Maße abhängig von den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Diese wurden in den letzten 200 Jahren – und insbesondere in den letzten 50 Jahren – zunehmend abhängig von wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit. Dadurch wird es immer schwerer, die negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen des Kapitalismus, die unter anderen Rahmenbedingungen der Garant für eine wachsende Lebensqualität für immer mehr Menschen wurden, in ihrer Wirkung aufzuhalten bzw. abzuschwächen.“ (4)

Zitate aus: Uwe Schneidewind: Die große Transformation, Frankfurt am Main, 2019,  (1) S. 54, (2) S. 69, (3) S. 70, (4) S. 70