Harald Lesch im Gespräch

Frage: Was läuft grundlegend und prinzipiell nicht gut in unserem Bildungssystem?

H. Lesch: Ich glaube, dass insgesamt zu wenig in Zusammenhängen unterrichtet wird. Also wir haben zu viele Schubladen und zu wenig Motivation für alle die, die irgendwo unterrichtet werden: warum soll ich mich mit einem bestimmten Thema überhaupt auseinandersetzen? Und dadurch, dass die Fächer so stark voneinander getrennt sind, anstatt sie wirklich zusammen zu ziehen. An einem Phänomen, einem bestimmten großen Thema sollten möglichst viele Schulfächer daran arbeiten. Klimawandel wäre z.B. so ein wunderbares Thema, wo man zeigen kann, da sind nicht nur alle Naturwissenschaften dran beteiligt, sondern natürlich auch Literatur, wie gehen Menschen in den Ländern mit den Erfahrungen eines verwandelten Klimas eigentlich um, was bedeutet es, wenn man sich auf einmal auf den Weg machen muss.

Der Hauptpunkt ist einfach, dass durch diese Klassifikation in einzelne Fächer in unserem Kopf etwas entsteht, was gar nicht der Welt entspricht. Der Welt entspricht etwas ganz anderes, dass wir nämlich über grundlegende Fähigkeiten verfügen müssen, wie wir uns mit ihr auseinandersetzen können.

Und eine wichtige davon, die sich im Abendland entwickelt hat, ist eben, zu schreiben, zu lesen und zu rechnen, das heißt wir können etwas quantitativ erfassen, in Zahlen, Mathematik spielt für uns in allen Lebensbereichen eine Rolle, es ist wichtig, Relationen einschätzen zu können, aber wir müssen auch mit Texten umgehen können, also wir müssen einen Text lesen können, wir müssen ihn verstehen können, interpretieren, wir müssen auch das verstehen, was zwischen den Zeilen steht, und wir müssen natürlich auch selber Texte produzieren können.

Und diese drei wesentlichen Fähigkeiten in Zusammenhang gebracht mit all dieser unglaublichen Informationsmenge, die uns ja heute über die entsprechenden Medien zur Verfügung stehen, das macht heute einen gebildeten Menschen aus. Dafür sind die Schulen in Deutschland einfach nicht so gemacht.

Frage: Wer geht da so mit sechs Jahren rein, und wie geht der wieder raus?

Also, das ist interessant, man sollte einen Film drehen. Die erste Woche in so einer ersten Klasse, die sind noch total begeistert, das ist eine Freude, denen zu zugucken usw. Natürlich gibt es auch den einen oder anderen mit hm, hier geh ich nicht mehr hin, aber dann merkt man, wenn man jedes Mal so ein Video machen würde mit der Klasse, würde man merken, wie die Lust, etwas zu lernen, systematisch in die Knie geht.

Und dann kommt die Phase, wo vor allem bei Jungs hier auf der Stirn geschrieben steht: Baustelle, also in der Pubertät, und dann müsste man etwas tun in der Schule, was in Deutschland viel zu wenig gemacht wird, man muss sie in den Wettbewerb schicken: Theater spielen, Musik machen, Sport, Kunst, Werken, alles woran sich eine Person ausprobieren kann. Um später wieder einzusetzen, okay, jetzt bist du soweit, wo du auch mit abstrakteren Begriffen, mit abstrakteren Themen auseinandersetzen kannst. Aber dazwischen muss Schule die Gelegenheit bieten, dass Persönlichkeiten entstehen, die an der Findung ihrer Identität viel aktiver beteiligt sind, als das momentan der Fall ist.

Also das Leben vieler Jugendlicher findet nur zweidimensional statt, also entweder mit dem digitalen Diktator in der Hand oder dem Flachbildschirm, auf dem irgendwelche virtuellen Spiele gespielt werden. Und das Dreidimensionale, das Leben, das riecht, das anders klingt, wo es dreckig ist, wo irgendwas passiert, was einem möglicherweise nicht gefällt und wo vor allem die Auseinandersetzung da ist; bei Aristoteles wurde so schön formuliert: der Mensch ist das Lebewesen, das mit anderen zusammenlebt, das Zoon Politikon, dieses Zusammensein ist natürlich der Punkt, den man in Schulen viel stärker machen muss.

Wie Bildung gelingen könnte, hat natürlich damit zu tun, wie diejenigen sich fühlen, die sich in den Schulen Tag für Tag treffen, nämlich die, die unterrichten und die, die unterrichtet werden.

Sie plädieren für die „Waldorfisierung“ der Schulen, sagen auch, es sollte etwas gemütlicher zugehen, etwas mehr Raum da sein.

Ja klar.

ZDF, Markus Lanz, 5.3.2020