Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen
Grundrechte sind kein Luxus nur für gute Zeiten
„Natürlich ist es notwendig und richtig, etwas gegen die Ausbreitung von Covid-19 zu unternehmen. Nicht notwendig oder richtig ist die Behauptung, es müsse ,alles getan´ werden, weil im ,Krieg gegen das Virus´ alles erlaubt sei.“
von Juli Zeh / Focus 2020
Vor elf Jahren habe ich in meinem Roman „Corpus Delicti“ eine Gesellschaft beschrieben, die sich in einen Gesundheitsstaat verwandelt hat. In diesem System werden bürgerliche Freiheiten dem Erhalt der Volksgesundheit geopfert. Aus Angst vor Infektionen verlassen die Menschen kaum noch das Haus, und wenn doch, dann nur mit Mundschutz, weil sie jeden Mitbürger als potenzielle Keimschleuder fürchten. Staatlich verordnete Gesundheitstests sind selbstverständlich, ebenso Zuckerverbot, Sportpflicht und ständige Überwachung jedes Individuums. Die Staatsmacht liegt nicht bei Parlamenten, sondern bei Experten. Ihren Erhalt garantiert eine agitierte Bevölkerung durch soziale Kontrolle.
Freiheit erscheint als gefährliche Ausschweifung
Von Lesern wurde ich damals gefragt, warum sich die Menschen in dieser Geschichte nicht gegen die Gesundheitsdiktatur wehren. Warum sie sich das alles gefallen lassen. Die Antwort erschien vielen erstaunlich: Weil sie es so wollen. Weil sie glauben, Gesundheit sei das höchste Gut, zu dessen Erhalt absolut jedes Mittel recht sein müsse. Weil ihr Sicherheitsbedürfnis so hoch ist, dass ihnen Freiheit als gefährliche Ausschweifung erscheint. Mit anderen Worten: Weil sie Angst haben. Nicht vor Infektionen allein, sondern vor der existenziellen Unkontrollierbarkeit des Lebens.
Heute zeigen sich laut „Politbarometer“ knapp 90 Prozent der Deutschen mit Maßnahmen einverstanden, die aufgrund der Ausbreitung von Covid-19 große Teile ihrer Grundfreiheiten quasi auf null setzen. Binnen weniger Wochen wurden Schulen und Kitas geschlossen, Ausgangssperren und Arbeitsverbote erlassen, Gottesdienste unterbunden, Reise- und Versammlungsfreiheit abgeschafft. Die Telekom übermittelt Handy-Daten ans Robert Koch-Institut, um „Bewegungsströme“ zu analysieren.
Der Gesundheitsminister denkt laut darüber nach, das „Tracking“ von Individuen zum Teil des Gesundheitsschutzes zu machen. Es ist von Krieg, Notstand und „Ermächtigung“ die Rede. Die Liste der betroffenen Grundgesetzartikel ist unglaublich lang. Dazu zählen körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG), Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG), die Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG), der Schutz von Ehe und Familie und die Erziehung als Elternrecht (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG), die Freizügigkeit (Art. 11 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) sowie vom Verfassungsgericht entwickelte grundrechtsgleiche Positionen wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Kritiker werden als herzlose Idioten dargestellt
Die wenigsten Bürger scheint das zu stören. Ein Aufbegehren oder auch nur Infragestellen der massiven Freiheitseinschränkungen ist kaum zu verzeichnen, selbst wenn wirtschaftliche Existenzen in Gefahr geraten, Familien unter enormem Druck stehen und das Selbstbestimmungsrecht der Einzelnen praktisch leerläuft. Eher wächst heimlicher Neid auf die „Effizienz“ und Schnelligkeit autokratischer Regime, denen wir vor Kurzem noch Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen haben.
Ein ernst zu nehmender Diskurs über das Vorgehen findet nicht statt. Alles muss schnell gehen und wird vor dem Hintergrund eskalierender Medienberichterstattung als alternativlos empfunden; Kritiker laufen Gefahr, als herzlose Idioten dazustehen und sich entsprechende „Shitstorms“ einzuhandeln.
Natürlich ist es notwendig und richtig, etwas gegen die Ausbreitung von Covid-19 zu unternehmen. Nicht notwendig oder richtig ist die Behauptung, es müsse „alles getan“ werden, weil im „Krieg gegen das Virus“ alles erlaubt sei. Solche Äußerungen ignorieren die Existenz von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz. Dass sie trotzdem so hohen Zuspruch finden, ist für unsere Gesellschaft langfristig bedrohlicher als die Krankheit selbst.
Sehnsucht nach Kontrolle kann übermächtig werden
Krisen bringen keine neuen Mentalitäten hervor, sondern beschleunigen aktuelle Trends. Schon seit Längerem zeigt sich in liberalisierten Gesellschaften eine erschreckende Form von Demokratiemüdigkeit. Man hat kein Vertrauen mehr in Parteien, Politiker und komplizierte demokratische Prozesse, sondern sehnt sich nach den klaren Ansagen von „Experten“ oder gleich von autoritären Anführern. In fast allen Ländern der westlichen Hemisphäre punkten rechtspopulistische Parteien mit dem infantilen Versprechen, alles irgendwie einfacher, kleiner und sicherer zu machen.
Das Gefühl, die Welt werde ständig schlechter und steuere auf den Untergang zu, ist tief in die DNA unserer Gesellschaft eingegangen. Die Globalisierung erscheint nicht mehr als Grundbedingung von wachsendem Wohlstand und Freiheit, sondern als Zustand maximalen Kontrollverlusts. Anscheinend ist uns alles zu viel geworden: zu viel Veränderung, zu viel Mobilität, zu viel entgrenztes Herumwandern von Informationen, Menschen und Waren. Selbstverständlich ist der Glaube, die Welt sei jemals überschaubar oder gar kontrollierbar gewesen, eine Illusion. Trotzdem kann die Sehnsucht nach Kontrolle übermächtig werden.
Demokratische Diskursfähigkeit wird zerstört
Das Coronavirus steigert das Unbehagen an der zeitgenössischen Lebensform zu panischen Reflexen wie kein anderes Ereignis der vergangenen Jahrzehnte. Angesichts der Pandemie verwandelt sich Politik zunehmend in eine Form von Gefahrenabwehr. Dabei heiligt der Zweck die Mittel und duldet keinen Widerspruch. Wer dem Streben nach Sicherheit die Idee von Freiheit entgegensetzen will, muss sich sagen lassen, ihm seien die unzähligen potenziellen Opfer egal. Auf diese Weise entsteht ein giftiger Antagonismus, der die demokratische Diskursfähigkeit zerstört: Menschenrechte gegen Menschenleben.
Entweder wir verhindern schlimmes Leid oder wir halten uns an die freiheitliche Grundordnung. Dieser Fundamentalirrtum betrachtet unser Grundgesetz als Schönwetter- Papier, das Gültigkeit besitzen mag, solange alles einigermaßen gut läuft. In Krisensituationen aber sollen andere Regeln gelten. Dann werden Grundrechte zu einem Luxus, den man sich „in Zeiten wie diesen“ nicht mehr erlauben zu können glaubt.
„So viel wie nötig, so wenig wie möglich“
Dabei ist das Grundgesetz in Wahrheit viel klüger als jede apokalyptische Rhetorik, die Menschenrechte und Menschenleben als unvereinbar erscheinen lässt. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit als konkurrierende Wertekonzepte gehört zum Kerngeschäft unserer Verfassungswirklichkeit. Auch die Vermittlung zwischen allgemeinen und persönlichen Interessen ist alltägliche Daueraufgabe. Der Schlüssel zur Lösung heißt „Verhältnismäßigkeit“. Niemals, auch nicht „in Zeiten wie diesen“, heiligt der Zweck sämtliche Mittel.
Eine freiheitsbeschränkende Maßnahme muss immer geeignet sein, ihr Ziel überhaupt zu erreichen. Sie muss außerdem erforderlich sein, das heißt, sie muss das „mildest mögliche Mittel“ darstellen. Es gibt kein Recht des Staates darauf, so viel wie möglich zu tun und alles Denkbare auszuprobieren, in der Hoffnung, irgendetwas davon möge zum Erfolg führen. Auch in Krisenzeiten gilt nicht „Viel hilft viel“, sondern „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“.
„Es ist ein Irrtum anzunehmen, es gebe Sicherheit und Gesundheit nur um den Preis der Freiheit“
Alle diese Parameter können und müssen diskutierbar bleiben. Der verbreitete Glaube, man müsse einfach nur der Meinung von Experten folgen, um zum besten Ergebnis zu kommen, ist falsch. Jede beliebige Entscheidung kann sich immer als gut oder schlecht erweisen. Auch kann alles, was dem einen nutzt, dem anderen empfindlich schaden. Deshalb werden wir Menschen niemals eine einhellige Antwort auf die Frage geben, was gut oder schlecht im jeweiligen Fall überhaupt bedeutet. Wenn es möglich wäre, aufgrund von Expertise ein absolut richtiges Vorgehen zu bestimmen, bräuchten wir überhaupt keine Politik, weder in Krisenzeiten noch im Normalzustand. Dann könnten wir unsere Entscheidungen einfach von Experten diktieren oder von Algorithmen berechnen lassen und uns eine Menge Aufwand sparen.
Zuhause bleiben oder Mundschutz tragen
Aber so funktioniert das Leben nun einmal nicht. Deshalb besteht die Aufgabe von demokratischer Politik auch nicht darin, ein vermeintliches Optimum herauszufinden, sondern Legitimität herzustellen. Die Bürger haben ein Recht darauf zu hinterfragen, ob allgemeine Kontaktverbote tatsächlich milder sind als zum Beispiel die sogenannte Umkehrisolation, bei der Risikogruppen gezielt geschützt werden.
Oder warum man uns verpflichtet, zu Hause zu bleiben, statt das Tragen von Mundschutz anzuordnen, um das öffentliche Leben fortsetzen zu können. Das sind keine pietätlosen Fragen, sondern notwendige Bestandteile einer Abwägung, die unerlässlich ist, um Grundrechtseingriffe im Rahmen der Verfassung zu legitimieren. Die Verpflichtung zum fortwährenden Ausgleich folgt aus der bitteren Erkenntnis, dass das Absolutsetzen einzelner Werte in den Totalitarismus führt. Gesellschaften rennen nicht ins Verderben, weil sie von geheimnisvollen bösen Kräften getrieben werden. Sondern meistens aufgrund des festen Glaubens, den richtigen Weg zu kennen und mit allen Mitteln durchsetzen zu müssen.
Auch bei der Kriminalitätsbekämpfung wäre mehr Kontrolle doch ganz schön
Demokratisches Handeln muss also stets berücksichtigen, dass es entgegenstehende, schutzwürdige Interessen gibt. Wer dabei vergisst, dass ein allgemeines Lebensrisiko existiert, weshalb wir trotz aller Sehnsucht nach Sicherheit niemals in der Lage sein werden, Krankheiten, Unfälle oder Verbrechen endgültig zu verhindern, wird notorisch über das Ziel hinausschießen.
Daran müssen wir uns dringend erinnern, falls nach überwundener Corona- Epidemie der Gedanke auftauchen sollte, dass einige der implementierten Notmaßnahmen eigentlich auch in anderen Situationen ganz praktisch wären. Was, wenn das Virus zurückkommt? Oder sich ein anderes zeigt? Und wäre es nicht auch im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung schön, viel mehr Kontrolle über die Menschen zu haben? Was spräche eigentlich dagegen, wenn jeder Bürger ein Armband trüge, das ständig Aufenthaltsort, Emotionen und Gesundheitszustand an die Behörden übermittelt?
Überwachte Grenzen, dokumentierte Mobilität, Vitaldatenüberwachung – das alles sind nützliche Instrumente, wenn man bereit ist, Prävention für das höchste politische Ziel zu halten. Dann lässt sich der Irrtum, es gebe Sicherheit und Gesundheit nur um den Preis der Freiheit, mühelos ins Unendliche verlängern.
Pandemie, die Rechtsstaat befällt, wäre noch schlimmer
Um das zu verhindern, dürfen und müssen wir Bürger auf unsere Grundfreiheiten pochen – auch in „Zeiten wie diesen“ und erst recht danach. Wir können uns als Gesellschaft für Kollektivmaßnahmen zur Verhinderung einer Pandemie entscheiden. Aber diese Maßnahmen müssen angemessen, demokratisch legitimiert und tatsächlich endlich sein. Jedermann hat das Recht, das Vorgehen zu kritisieren, andere Meinungen zu vertreten, einen Diskurs anzustoßen. Niemand muss aufgrund von Demokratie-Entzug in einer Schockstarre verharren. Niemand muss sich behandeln lassen wie ein Kind, das kein Mitspracherecht besitzt, weil es nicht weiß, was gut für es ist. Ganz gleich, gegen welche Bedrohung wir gerade kämpfen – wir dürfen niemals vergessen, was unser Gemeinwesen im Kern zusammenhält. Sonst werden wir die Grundlagen jener Gesellschaft zerstören, die wir doch verteidigen wollen. Eine Pandemie, die Menschen krank macht, ist schlimm genug. Eine Pandemie, die den Rechtsstaat befällt und die freiheitliche Gesellschaft womöglich unheilbar erkranken ließe, wäre noch schlimmer.
aus: FOCUS 15 (2020), mit freundlicher Genehmigung der Autorin